Wir erinnern uns dankbar

„Ich will dich segnen und
du sollst ein Segen sein.“ (Gen 12,2)

 

Leben und Wirken von Rosemarie Diegritz

                     11. Oktober 1934 bis 13. Juni 2024 

Leben und Wirken von Rosemarie Diegritz, Gattin des früheren Neu-Ulmer Dekans Klaus Diegritz, waren so vielschichtig, dass es einer ausführlichen Würdigung bedarf, in der auch Weggefährtinnen zu Wort kommen.

Kindheit und Jugend:

Rosemarie Diegritz, geborene Pletz, wurde 1934 in Schwiebus geboren, einer Kreisstadt mit heute 22.000 Einwohnern in Polen, damals Mark Brandenburg. Den Vater zog die Wehrmacht 1939 zu Kriegsbeginn ein und stationierte ihn bei der Feldpost in St. Nazaire / Frankreich. Die Mutter brachte Rosel und ihre Schwester Marianne durch den Krieg, indem sie Lebensmittelkarten austrug und in der elterlichen Landwirtschaft mitarbeitete. Rosel besuchte sowohl Kindergottesdienste als auch eine BdM-Kindergruppe. Sie erinnerte sich an den Fahnenappell mit Hissen der Hakenkreuzfahne, Führergruß und Horst-Wessel-Lied-Singen an jedem Montagmorgen in der Volksschulzeit. Im Januar 1944 flüchtete die Mutter mit den beiden Töchtern auf dem Pferdewagen der Großeltern vor der Roten Armee über

1990 - beim Abschied von Dekan Diegritz
Bildrechte Archiv der Petruskirche

Frankfurt/Oder nach Lübben im Spreewald und dann per Zug über Erfurt nach Michelau in Oberfranken. Dort traf sich die mütterliche Großfamilie und wurde von Geschäftsfreunden des Onkels aufgenommen. Am 6./7. Mai 1945 kamen die Amerikaner auf ihren Panzern nach Michelau und verteilten Kaugummi und Schokolade an die Kinder. Die Mutter fand Arbeit bei den Amerikanern, indem sie ihnen die Wäsche wusch. Als Flüchtlingskind wurde Rosel gut in der neuen Schulklasse aufgenommen. Nach seiner Entlassung aus französischer Kriegsgefangenschaft fand der Vater seine Familie in Michelau wieder. Ab dem 11. Lebensjahr besuchte Rosel die Oberschule in Lichtenfels. Übers evangelische Pfarramt Michelau wurden CARE-Pakete verteilt. Rosel engagierte sich in der evangelischen Jugendarbeit, lernte Klavier und Orgel und dabei den jungen Vikar Klaus Diegritz, gleichzeitig Sohn des dortigen Pfarrers und Dekans, kennen und schätzen. Nach der Hochzeit 1953 zogen Rosel und Klaus an seine erste eigene Pfarrstelle nach Stammbach nahe Münchberg in Oberfranken.        

Knapp 60 Jahre später zog Rosel folgendes Fazit aus der Zeit ihrer Kindheit und Jugend: 

„Nie wieder Krieg!
Die Zeit des Zweiten Weltkriegs war für viele Menschen eine schlimme Zeit gewesen. Viele Menschen wurden erniedrigt, getötet, erbarmungslos hingerichtet, und Völker wurden ausgerottet.
Mein Mann kehrte mit 19 Jahren im Juni 1945 verwundet aus der Slowakei zurück. Die schrecklichen Erfahrungen, die er als junger Mann im Krieg gemacht hatte, und meine Flucht prägten unsere Einstellung zu Krieg und Frieden. Wir schlossen uns der Friedensbewegung an, als 1983 die Proteste gegen die Pershing-Raketen begannen...“


     
Jahrzehntelanges Zusammenwirken der Pfarrer-Paare Diegritz und Zeller:

Team Zeller-Diegritz
Bildrechte Archiv der Petruskirche

1964 bekam Klaus Diegritz in Stammbach einen Vikar Zeller zugeteilt. Die Zusammenarbeit der beiden Männer war von gegenseitigem Vertrauen und Respekt geprägt. Dasselbe galt auch für die gemeinsamen Kontakte der beiden Frauen Waltraud Zeller und Rosemarie Diegritz. Bereits damals musizierten die Frauen miteinander, und Rosel leitete dort – trotz ihrer vier kleinen Kinder – einen Frauenkreis. So etwas wurde damals von einer Pfarrfrau einfach erwartet. Bald nach der Geburt der jüngsten Tochter Eva zog die Familie Diegritz 1965 nach Bad Berneck, wohin Klaus Diegritz als damals jüngster Dekan von der ELKB berufen worden war. Und Rosel wurde Mitglied im dortigen Stadtrat. Zehn Jahre später, im März 1975, wechselte Klaus Diegritz als Dekan nach Neu-Ulm, und im Herbst desselben Jahres bewarb sich Herr Zeller auf die 2. Pfarrstelle an der Petruskirche Neu-Ulm. Die bewährte Zusammenarbeit beider Männer und Frauen konnte weitergehen. 


Schon im Jahr darauf gründeten die beiden Frauen mit Unterstützung von Sigrid Markmiller die „Montagsrunde“. Zielgruppe waren „Frauen in der Lebensmitte zwischen 30 und 50“. „Und diese Runde hat eingeschlagen!“, erinnert sich Christine Hauschild, die von Rosel Diegritz zur Mitarbeit motiviert wurde und Jahre später die Leitung der

Frau Markmiller, Frau Zeller und Frau Diegritz 1997 beim Ausflug der Montagsrunde
Bildrechte Archiv der Petruskirche

Montagsrunde von ihr mit übernahm. „Das Vorbereitungsteam hat sich immer bei Frau Diegritz getroffen. Wir saßen am Esstisch zusammen und entwickelten das Programm: Wir haben die Psychologin Christa Meves dagehabt. Wir haben uns regelmäßig mit den amerikanischen Christinnen aus dem Wiley getroffen. Wir haben uns mit Bibel, Kunst und Politik beschäftigt. Ich erinnere mich noch an die Info zum Boykott von Früchten aus Südafrika.“ Die „Evangelische Frauenarbeit in Deutschland“ hatte dazu aufgerufen: „Kauft keine Früchte der Apartheid! Unterstützt den Kampf für Gerechtigkeit in Südafrika!“ Frau Dilschneider vom „Dritte Welt“-Laden in Ulm lieferte dazu das Hintergrundwissen. Gleichzeitig diente es der Vorbereitung eines ökumenischen Weltgebetstages über Südafrika in der katholischen Nachbargemeinde St. Johann Baptist.

Diese weit über vierzig Jahre bestehende „Montagsrunde“ war der Beginn einer intensiven Frauenarbeit in der Petrus-Gemeinde Neu-Ulm und darüber hinaus.

Dorothee Rabenstein-Wagner, Prädikantin in Pfuhl, erinnert sich: „Im Dekanat organisierte Rosel Frauen-Nachmittage und -Tage und gestaltete sie mit. Und auch die Frauengleichstellungsarbeit brachte sie im Dekanat Neu-Ulm auf den Weg.“ 

Dass dieser Arbeitschwerpunkt nötig war, erklärt die Burlafinger Prädikantin Christel Balser folgendermaßen: „Durch die intensive Frauenarbeit … ist mein Gottesbild vom alten Herrn mit Bart und allmächtigem Vater-Gott sehr ins Wanken gekommen. Schon in der Schöpfungsgeschichte heißt es doch: „Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn; männlich und weiblich schuf er sie.“ Aber wo war das Weibliche geblieben in den Gottesdiensten und überhaupt in der Verkündigung unserer Kirche? Dank Rosemarie haben ich und viele andere Frauen die weibliche Seite Gottes entdecken dürfen: in Weltgebetstagsvorbereitungen, in Frauentagen, in Gesprächen usw. Von vielen Pfarrern und anderen wurden wir deshalb argwöhnisch beobachtet. So wurde Rosemarie auch Mitbegründerin unseres ökumenischen Hauskreises „Feministische Theologie“, der nun schon einige Jahrzehnte besteht. Mir persönlich war Rosemarie auch eine wunderbare Freundin, Beraterin und Unterstützerin während meiner Arbeit in der Landessynode. Für Alles danke ich ihr von Herzen.“

Dorothee Rabenstein-Wagner weiter: „Weil sich Rosel auch stark für die Pfarrfrauen im Dekanat Neu-Ulm einsetzte, wurde sie zur Vertreterin der Pfarrfrauen der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Bayern für den Kirchenkreis Augsburg gewählt.“ 
        
Ruth Schreiber, Gattin des früheren Pfarrers Günter Schreiber in Thalfingen, charakterisiert Rosels Pfarrfrauenarbeit folgendermaßen: „Rosel war als Frau des Dekans „ranghöchste Pfarrfrau“ und füllte diese Aufgabe mit ihrer natürlichen, liebevollen Art aus. Sie lud uns regelmäßig zum Pfarrfrauenfrühstück in ihr privates Esszimmer ein, wo wir nicht nur ratschten, sondern aktuelle Fragen diskutierten, wie zum Beispiel das bedingungslose Grundeinkommen. Sie leitete das Vorbereitungsteam zum Weltgebetstag, das jedes Jahr in drei Regionen des Dekanats die Gemeindeteams ins jeweilige Thema einführte.“ Die Empfehlungen dazu holte sie sich vom Frauenwerk Stein bei Nürnberg, das sie regelmäßig besuchte. „Zu den Pfarrfrauentagungen der Evangelischen Akademie Tutzing fuhr sie gerne mit anderen Pfarrfrauen, was ihr Mann etwas misstrauisch kommentierte, da es teilweise um heiße Eisen ging. Auch für private Sorgen und Freuden von uns Pfarrfrauen hatte sie immer ein offenes Ohr. Es gab wohl keine, die sie nicht ins Herz geschlossen hatte. Deshalb schenkten wir ihr als Abschiedsgeschenk für den Ruhestand eine Patchworkdecke, zu der jede Pfarrfrau aus dem Dekanat ein selbst gestricktes Quadrat beisteuerte und damit ein Stück Liebe und Wärme zurückgab. Zu meiner großen Freude lag diese Decke nach fast dreißig Jahren auf einem Sessel ihres Zimmers im Altenheim.“


Logo Friedensgebete
Bildrechte Friedensgebete

Sigrid Markmiller, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Ulmer-Hospiz-Stiftung, und Dorothee Rabenstein-Wagner heben den nächsten Schwerpunkt in Rosemaries Engagement hervor:  die  Mitarbeit beim „Ulmer Frauen Friedensgebet“. Der NATO-Doppelbeschluss Ende der 70er- und seine Umsetzung Anfang der 80er-Jahre waren der Grund für dieses Engagement. Selbst Dekan Diegritz und Pfarrer Zeller reihten sich damals aus Anlass der Stationierung von Pershing-Raketen in Neu-Ulm und anderswo in die 100 km lange Menschenkette von Neu-Ulm zum amerikanischen Hauptquartier nach Stuttgart ein. Bei den anschließenden montäglichen Friedensgebeten – sie waren ökumenisch offen für verschiedenste Kirchen – engagierten sich über Jahrzehnte hinweg vor allem die Frauen. Rosel stieg nach dem Tod ihres Mannes (1993) intensiv in diese Arbeit ein und knüpfte Kontakte innerhalb der bundesweiten Friedensbewegung – so auch zum Pfarrer Führer aus Leipzig, der 1989 durch das Öffnen seiner Nikolaikirche für Protestierende der Montagsdemonstrationen bekannt wurde. Dank dieses Netzwerks holte Rosel Diegritz sogar eine Jahreshauptversammlung der Friedensbewegung nach Ulm/Neu-Ulm.

Waltraud Zeller, die 60 Jahre von Rosels Leben überblickt: „Für Rosel waren nicht nur Frauenarbeit und Friedensbewegung charakteristisch, sondern auch ihr Interesse für Kunstausstellungen, Musik und Natur. Egal in welchem Bereich – sie war stets freundlich und kommunikativ. Sie war gern unter Leuten und dabei konstruktiv zu jedermann. Sie handelte nach dem Prinzip „Was tut dem anderen oder der Gemeinde gut?“ Sie war eine Bereicherung.“
 
„Und eine „Kümmerin“, der das Wohlergehen anderer am Herzen lag“, ergänzt Bärbel Dworzak, frühere Mitsängerin im PetrusChor, in dem Rosel Diegritz unter den Kantoren Pluskat, Gütinger und Scheffels von 1975 an über 40 Jahre lang mit Freude den Alt bereicherte.  

Lange machte sie auch in einem Bastelkreis der Petrusgemeinde für den alljährlichen Adventsbazar unter Leitung von Frau Kohn und Gertrud Aschoff mit. 
Und regelmäßig traf sie sich mit drei weiteren Frauen („Usche“ Teller, Bärbel Riehm und Bärbel Dworzak) in einem Flötenkreis für Musik überwiegend aus der Barockzeit.  
Kleine Anekdote: Herr Diegritz las gerade die Tageszeitung, als die vier Flötenspielerinnen bei Rosel zum Musizieren zusammenkamen und das Zimmer betraten. Weil er es räumen musste, bemerkte er spitz: „Das ist auch eine Art moderne Christenverfolgung!“ Seine Frau beirrte das aber nicht...  Auf Anregung von Rosel spielte das Flötenquartett auch mehrmals bei der Vesperkirche in Ulm.


Tochter Dorothea Diegritz beantwortet die Fragen, wie ihre Mutter das alles samt Familienarbeit (mit anfangs vier Kindern) unter einen Hut gebracht hat und ob ihr Zeit für die Familie blieb, folgendermaßen:
„Sie konnte deshalb alles so gut unter einen Hut bringen, weil ihre Mutter zu uns zog. Als ich 1955 geboren wurde, kam Rosels Mutter „lebenslänglich“ zu uns. Sie war tatkräftig. Meine Mutter hatte somit gut Zeit für uns. Ja, da war Rosel privilegiert. Sie war darüber sehr dankbar. Wir hatten eine gute Kindheit mit lieber und präsenter Mutter. Sie unterrichtete Christiane und mich in Blockflöte; wir drei Schwestern lernten auch Klavier. Und Jürg und Christiane spielten während unserer Zeit in Oberfranken im Posaunenchor. Wir hatten eine behütete Kindheit. In unserer Jugend waren unsere Eltern erstaunlich tolerant. Schon 1974 wurden wir Diegritz-Kinder flügge, und die vierzig Jahre junge Mutter war somit „frei“.
Regelmäßig besuchte Rosel ihre Schwester Marianne in Berlin. Sie liebten Konzerte in der Philharmonie, aber auch  Kunstausstellungen und Kirchen. Gerne machten die beiden Radtouren in und um Berlin. 
Nach dem Tod meines Vaters (1993) fuhren Rosel und ihre Schwester auf vielen Reisen mit, die Hans-Jürgen Aschoff für die Petrusgemeinde Neu-Ulm anbot. Auch mit dem Ehepaar Zeller unternahm Rosel Reisen zu allen Nordsee-Inseln und nach Schweden.
Plötzlich und viel zu früh starb meine jüngste Schwester Eva im Jahr 2009. Sie war erst 45. Das war sicher das Schwerste für Rosl. Im Jahr danach begannen ihre ersten Gedächtnisstörungen.“


2016 kam Rosemarie Diegritz zur 40 Jahr-Feier der Montagsrunde
Bildrechte Archiv der Petruskirche

Die letzten Jahre
Sechs Jahre später zog sie sich aus dem PetrusChor zurück, weil auch ihre Stimme nachgelassen hatte. Allmählich verdichteten sich die Anzeichen einer Demenz. Auf Dauer konnte Rosel nicht mehr alleine wohnen bleiben. In Absprache mit ihren Geschwistern besorgte Tochter Dorothea für die Mutter ein Zimmer im Clarisssenhof Söflingen, wo sie gut betreut noch ein paar Jahre zubringen konnte.

Wegen ihrer liebenswerten, den Menschen zugewandten Art war Rosel sowohl beim Pflegepersonal als auch bei den Mitbewohnern auf ihrer Station beliebt. „Mit ihrem freundlichen und kommunikativen Charakter war Rosel eine Bereicherung für die Menschen im Clarissenhof“, fasst Tochter Dorothea ihre dortigen Beobachtungen zusammen. Dasselbe bestätigte mir ein Senior unserer Kirchengemeinde, der ebenfalls im Clarissenhof lebt und mit dem ich anlässlich seines Geburtstags sprechen konnte. „Im Clarissenhof war Rosel ganz arg lieb und wurde immer sanfter und freundlicher“, registrierte ihre langjährige Vertraute Sigrid Markmiller, die stellvertretende Vorsitzende der Ulmer-Hospiz-Stiftung, bei ihren Besuchen von Rosel.

Als ihre Kraft immer weiter nachließ, blühte sie trotzdem jedes Mal auf, wenn Kinder mit Enkeln und Urenkeln auf Besuch kamen. Dann zeigte sie wieder ihr sanftes Lächeln, das jeder an Rosemarie Diegritz kannte.
Am 13. Juni 2024 durfte sie – offensichtlich mit sich im Reinen und im Gefühl, alles gut gemacht zu haben – friedlich sterben. 

Berthold Dworzak, 7.7.2024